Mittendrin im Ukraine-Krieg – irgendwie
Dieses unfassbare Gemetzel, das in Russland nur „militärische Spezialoperation“ heißen darf, verfolgt auch mich. Allerdings muss ich nur Texte redigieren und lektorieren. Ich sehe das Elend von meinem Schreibtisch aus.
Heute war wieder so ein Tag, an dem es fast nur um den Krieg in der Ukraine ging. Ich schrieb zwei Texte über den Auftakt des Gesprächsreihe „Ortszeit Deutschland“ von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – einer davon ist auf DEMO-ONLINE zu lesen. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Auswirkung hat dieses schreckliche Gemetzel, das der russische Präsident Wladimir Putin da angezettelt hat, auf die Städte und Dörfer in Deutschland? Danach bearbeitete ich den Text einer guten polnischen Kollegin über die Zustände in Sopot. In der kleinsten der Dreistadt – Gdansk, Gdynia, Sopot – leben schon jetzt gut 1.000 Geflüchtete, bei 24.000 Einwohnern.
Ukraine! Krieg! Mitten in Europa! 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs! Wir alle haben uns im relativen Frieden eingerichtet. Und nun stürzt es alles zusammen wie ein Kartenhaus. Oder besser ausgedrückt: Das Friedenskonstrukt Europa ist längst eingestürzt. Obwohl ich mich seit der Annexion der Krim durch Russland immer wieder mit Putin befasste und bei Professor Dr. Wolfgang Eichwede zwei Semester lang in Sachen Mittel- und Osteuropa studieren hatte, wurde ich von diesem Krieg völlig überrascht.
Das Ding mit der professionellen Distanz
Der große deutsche Fernsehjournalist Hanns Joachim Friedrichs sagte in seinem letzten Interview mit dem Spiegel: „Das hab’ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“ Aber, wie gesagt, auch Journalisten sind eben nur Menschen. Professionelle Distanz zu wahren, ist ehrlich gesagt schwer.
Zwar ist Hanns Joachim Friedrichs noch immer Vorbild für viele Journalisten, doch es ist eine andere Generation herangewachsen. Diese versteht (professionelle) Distanz oftmals anders als meine Generation – ich bin Jahrgang 1966. Ein Hanns Joachim Friedrichs und ein Gerd Ruge, gingen anders mit Katastrophen um. Sie berichteten aus Vietnam, aus Nahost, vom Putschversuch in der Sowjetunion 1991. Die Bilder, die sie dabei sahen, brannten sich sicherlich auch in ihre Erinnerungen ein. Nur: Ein Gerd Ruge und ein Hanns Joachim Friedrichs kannten noch nicht das Phänomen einer post-traumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS. Das ist heute anders: Unsere Journalistenorganisationen, vielleicht auch einige Medienhäuser sorgen dafür, dass die Kollegen nicht alleine gelassen werden mit ihren Erfahrungen.
Erste schreckliche Bilder
Ich erinnere mich an das erste Video, das mir meine hochgeschätzte polnische Kollegin am ersten Tag des Krieges in der Ukraine schickte. Ich war – ein Treppenwitz der Geschichte – am 24. Februar für einen Auftraggeber zu Besuch bei den beiden Logistikbataillonen 161 und 163 in Delmenhorst. Die Soldaten hatten für ihre Gäste alles an Gerät aufgefahren, was ging. Auf dem Weg zur letzten Station machte es auf meinem Mobiltelefon „Ping!“: Das Video im Messenger zeigte tote Soldaten mit riesigen Löchern im Kopf. Der Rest des Gehirns lag daneben.
Ich schaute mir das Video später am Schreibtisch auf dem PC an – meine Nacht war ziemlich unruhig, die Bilder verfolgten mich im Traum. Bis ich diese Bilder wirklich verarbeitet hatte, dauerte es gut und gerne zwei Tage. Doch nicht nur das, in den ersten Tagen des Krieges war ich unruhig: Bekannte und eine Kollegin, die gerade im Herbst von Belarus in die Ukraine emigriert, war, musste schon wieder fliehen. Ich betete, dass alle heil aus der Ukraine herauskommen. Inzwischen sind sie in Sicherheit: in Vilnius und in Warschau.
Doomscrolling und Schokoriegel
Einige Tage später: Ich schaute mir mehrmals am Tag die Nachrichten auf den von mir abonnierten Telegram-Kanälen aus der Ukraine und Belarus an. Doomscrolling heißt dieses Phänomen übrigens. Die schrecklichen Bilder nahmen natürlich kein Ende. Aber ich und mein Umgang haben sich verändert. Ich habe mir unbewusst so etwas wie einen Schutz aus einer gewissen Portion Sarkasmus geschaffen.
An einem dieser Tage, an denen der Ukraine-Krieg an Härte zugenommen hatte, schaute ich mir auf einem der Nachrichtenkanäle ein Video an, das eine angeblich von ukrainischen Soldaten aufgebrachte russische Militärkolonne zeigte. Ich schaute das Video nach meinem Sport im Fitnessstudio und aß dabei einen gesunden Schokoriegel. Auch als das Video das weggeschossene Gesicht eines Soldaten zeigte, aß ich weiter. Ich erschrak nicht einmal vor mir!
Lego für einen Fünfjährigen
Inzwischen sind die Geflüchteten ganz nah bei mir – auch im wörtlichen Sinne. Meine Vermieter haben eine alleinstehende Frau mit ihrem fünfjährigen Sohn aufgenommen. Als ich dort vor einigen Tagen zu Besuch war, merkte ich: Oh, der Kleine liebt Lego. Als ich einige Besorgungen machte, kaufte ich für ihn einen Eiswagen von „Lego-City“. Der Junge freute sich riesig.
Und ich? Ich freute mich, einem Menschenkind, das aus seinem Leben gerissen worden war, ein kleines Geschenk machen zu können. Ich freute mich. Auch in den vergangenen Tagen gab es schöne Momente. Mein Arbeitsalltag ist glücklicherweise nicht nur von Krieg und Tod bestimmt. Und wenn doch, geht es oftmals schon um die Zukunft: Wie bekommen wir die Geflüchteten unter? Wie integrieren wir die Menschen. Und es geht um Themen wie die Erzieherinnen-Ausbildung in Bremen. Aber der Krieg kommt an manchen Tagen dann doch zurück in den Arbeitsalltag – wie gerade eben: Meine polnische Kollegin schickt mir ein Interview über die Situation an der ukrainisch-polnischen Grenze in Przemyśl-Medyka.